Wer in den Frühlingsmonaten wandernd unser hessisches
Heimatland durchstreift, dessen Fuß betritt auch die
Hochfläche des Ringgau, wo einst stolz und mächtig
die Boyneburg weithin über die Berge und Täler
schaute. Die kalten, kahlen, rauhen Höhen
und Flächen des Ringgau ziehen endlich
ihr Frühlingskleid an und werfen ihren
grauen, schmutzigen Winterpelz ab. Wohl
dauert es einige Wochen als drunten in den Tälern
der Werra und Fulda, bis der Frühling siegreich wie
ein Märchenprinz seinen Einzug hier oben hält. Wie rein
ist hier die Luft, wie still die Flur, wie einsam der Wald, wie
weltverloren träumen die wenigen Dörfer auf der
Höhe! Wer von der Boyneburg her über Granden-
born und Renda nach dem verlasse-
nen, stillen Rittersberg kommt und
von dort nach dem Ulfetal hinuntergeht, dessen Fuß
schreitet über die Stätte hinweg, wo einst das Dorf Rittershausen lag. Fränkische Ansiedler hatten hier am Abhang der Hochfläche das Dörflein erbaut und eine kleine Ackerflur urbar gemacht. Aber die Lebenskraft dieses Ortes war nicht allzugroß, da es an fruchtbarem Ackerboden, an saftigen Wiesen und frischen Quellen fehlte.
Um das Jahr 1400 ging die Lebenskraft des Dorfes zu Ende wie das Licht einer Kerze, die sich brennend selbst verzehrt. Der Volksmund aber weiß noch mancherlei zu erzählen vom Leben dieses Dorfes, und er erkennt noch genau die Stätte, wo der Friedhof und die Kirche lagen. In jedem Frühling, so erzählt man sich, wachsen dort kostbare, seltene, geheimnisvolle Blumen, wie sie sonst in der ganzen Gegend nicht mehr zu finden sind. Alle Jahre wieder, sobald der Frühling naht, erwachen diese Blumen aus ihrem Erdenschlafe und lächeln dem Sonnenlichte entgegen. Es ist, als ob diese Blumen sich lächelnd freuten über die Kräfte der Natur, die keine Menschenhand zerstören kann, aber zugleich scheinen sie auch zu trauern und zu weinen über das, was hier einst war. Es scheint ein Geheimnis um diese Blumen zu schweben; es scheinen Wunderblumen zu sein.
Ein alter Schäfer, der hier einst seine Schafe hütete, als die letzten Trümmer des Dorfes und die zerfallenden Reste der Kirche und Grabsteine noch sichtbar waren, hat uns das Geheimnis erklärt und den Schleier gelüftet, der diese Gegend noch heute um- schwebt.
Als die letzten Bauern das Dorf verließen, um eine neue Heimat drunten am Werraufer zu suchen, sei es allen sehr schwer gefallen, die Stätte zu verlassen, wo sie gelebt und gelitten, gearbeitet und gehungert hatten. Besonders der Tochter eines Bauern, die vor kurzer Zeit ihre Mutter verlor, sei das Herz gar schwer gewesen, als sie Abschied nehmen sollte von dem Grabe, das ihr liebes Mütterlein barg. Voller Angst und Sorgen habe sie schon tagelang in den stillen Abendstunden auf dem Friedhof am Muttergrab gesessen und gebetet: " Herr Gott, beschütze dieses Grab." Dann habe sie an den Tagen vor dem Aufbruch die schönsten Blumen des Waldes und der Flur gesucht und sorgsam auf der Mutter Grab gepflanzt. Als sie das Werk der Liebe und Treue vollbracht hatte, sei sie am Grab auf die Knie gesunken und habe zu Gott gebetet: "Laß die Blümlein alle Jahre wieder blühen an dieser Stätte des Friedens und laß sie nicht zerstört werden durch Gewalt der Menschen und der Tiere, durch Unwetter und Frost, durch den Pflug des Bauern und den Tritt der Pferde." Da sei es plötzlich licht und klar um sie geworden trotz der finsteren Nacht, die hereingebrochen war, und eine sanfte, friedensvolle Stimme habe ihr gesagt: "Tröste dich, mein Kind: deine Liebe und Treue sollen belohnt werden; dein Wunsch wird dir erfüllt; deine Blumen sollen jeden Frühling wachsen und blühen und Zeugen sein, daß die Treue an dieser Stätte nicht umsonst geweilt hat."
So blühen sie noch heute jeden Lenz und sagen dem Wanderer, der vorübergeht, daß hier die Stätte war, wo der Friedhof von Rittershausen lag und wo das Kirchlein stand, das einst Gottes Lobe und Ehre verkündigt. Treue, die tief und echt und wahr ist, kann nie untergehen, davon zeugen die Wunderblumen von Rittershausen.



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